Zwischen Warnung und Hoffnung

Die Corona-Pandemie hat die Früherkennung und Behandlung von Volkskrankheiten wie Krebs behindert. Auf der anderen Seite begünstigt die Impfstoffforschung die Entwicklung neuartiger Pharmazeutika
Illustration: Maria Martin
Illustration: Maria Martin
Mirko Heinemann Redaktion

Wer an Krebs leidet, ist schon lange verunsichert. Was ist mit den Therapien? Können angesichts der starken Auslastung der Kliniken durch Covid-19 überhaupt noch andere Patienten aufgenommen werden? Das Zaudern kann zu einer Verzögerung bei lebenswichtigen Maßnahmen führen. Aber auch auf die Krebsvorsorge hat die Pandemie starke Auswirkungen. Krebserkrankungen blieben im Lockdown zu oft unentdeckt und unbehandelt.


Die Weltgesundheitsorganisation schlug bereits Alarm. „Die Sicherstellung der Kontinuität der Krebsversorgung bei gleichzeitiger Bekämpfung von COVID-19 stellt eine enorme Herausforderung dar“, erklärte Hans Henri P. Kluge, Regionaldirektor der WHO für Europa, Anfang des Jahres in einem dramatischen Appell. In 122 von 163 Ländern habe Covid-19 die Versorgung mit nichtübertragbaren Krankheiten unterbrochen. Und in jedem dritten Land der Europäischen Region sei die Krebsversorgung teilweise oder vollständig unterbrochen. „In einem normalen Jahr sterben in Europa fast 2,2 Millionen Menschen an Krebs, ein viel zu hoher Tribut, wenn man weiß, dass diese Todesfälle hätten verhindert werden können.“

 

»Die Auswirkungen der Pandemie auf die Krebserkrankungen sind geradezu katastrophal.« Hans Henri P. Kluge, WHO


In den Niederlanden und Belgien sank die Zahl der Krebsdiagnosen in der ersten Sperrung des Jahres 2020 um 30 bis 40 Prozent. In Großbritannien wird erwartet, dass verzögerte Diagnose und Behandlung in den nächsten fünf Jahren zu einem Anstieg der Todesfälle bei Darmkrebs um 15 Prozent und bei Brustkrebs um 9 Prozent führen werden. Kluge: „Es bahnt sich eine Krise der nichtübertragbaren Krankheiten an.“


Diese Einschätzung bestätigt der Direktor der Chirurgischen Klinik des Erlanger Universitätsklinikums, Prof. Robert Grützmann. Im Portal Nordbayern.de warnt er vor möglichen Folgen aufgeschobener Untersuchungen und OPs: „Die Patienten sind eine Zeit lang nicht zum Haus- oder Facharzt gegangen, um sich untersuchen zu lassen. Damit wurden aber wichtige Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt.“


Selbst in einem normalen Jahr sind Krankheiten wie Krebs, chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes die Hauptursache für Tod und Behinderung in der Europäischen Region der WHO und machen mehr als 80 Prozent der Sterbefälle aus. Die Mittel für Palliativmedizin und Krebsprävention und -bekämpfung sind unzureichend, und allzu oft wird der Großteil der nationalen Gesundheitsressourcen in die Behandlung gesteckt, was auf Kosten von Investitionen in Prävention und Früherkennung geht.


Im Jahr 2020 wurde bei 4,8 Millionen Europäern Krebs diagnostiziert. Das sind mehr als 13.000 Menschen jeden Tag. „Jeder von uns kennt jemanden, der an Krebs erkrankt ist“, so WHO-Direktor Kluge. „Einer von drei von uns in den westeuropäischen Ländern und einer von vier in den osteuropäischen Ländern wird im Laufe seines Lebens an Krebs erkranken.“


Aufgrund der Reisebeschränkungen und der enormen Belastung der Gesundheitssysteme durch die Bekämpfung von COVID-19 sei die Krebsversorgung in der gesamten Europäischen Region der WHO unterbrochen worden, wodurch sich Diagnose und Behandlung erheblich verzögern. Das habe sich direkt auf die Heilungs- und Überlebenschancen von Hunderttausenden von Krebspatienten ausgewirkt. In einigen Ländern kam es zu Engpässen bei der Versorgung mit Krebsmedikamenten, und in vielen Ländern ist die Zahl der neuen Krebsdiagnosen deutlich zurückgegangen. „Die Auswirkungen der Pandemie auf die Krebserkrankungen in der Region sind geradezu katastrophal. Sie hat uns die tatsächlichen menschlichen Kosten der Vernachlässigung einer nicht übertragbaren Krankheit wie Krebs vor Augen geführt.“


Auf der anderen Seite ist es gerade die Forschung an innovativen Pharmazeutika, die durch die Corona-Pandemie einen entscheidenden Schub erhalten hat. Vor allem Arzneimittel auf Basis des so genannten mRNA-Prinzips galten schon lange als Hoffnung im Kampf gegen den Krebs. Der Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer basiert auf genau diesem Prinzip: mRNA steht für messenger-Ribonukleinsäure, auch als Boten-RNA bezeichnet. Bei mRNA-Impfstoffen werden keine Krankheitserreger oder deren Bestandteile benötigt wie bei vielen herkömmlichen Impfstoffen. Im Fall des Coronavirus werden einigen wenigen Körperzellen mit dem Impfstoff Teile der Erbinformation des Virus als RNA mitgegeben – geliefert wird also der Bauplan für einzelne Virusproteine, die auch als Antigene bezeichnet werden und das Immunsystem aktivieren. Bei einem späteren Kontakt mit dem neuartigen Coronavirus erkennt das Immunsystem im Prinzip das Antigen wieder und kann das Virus gezielt bekämpfen.


Dass so schnell Corona-Impfstoffe etwa von Biontech und Moderna auf den Markt kamen, war auch der jahrelangen Grundlagenforschung zu mRNA-Impfstoffen für die Krebstherapie zu verdanken. Die individualisierte Krebsimmuntherapie zielt darauf, die Mutationen in einem Tumor zu identifizieren, ihren Bauplan zu entschlüsseln und einen für diesen Tumor und damit für den Patienten maßgeschneidertes Medikament herzustellen.


„Das Immunsystem gegen Sars-CoV-2 mit einem Impfstoff zu aktivieren, ist im Vergleich eine einfachere Herausforderung als die Überwindung der Selbsttoleranz gegen Krebs“, sagte Biontech-Chef Ugur Sahin dem ZDF. Das von ihm gegründete Unternehmen Biontech sieht sich selbst als „Wegbereiter der individualisierten Krebstherapie“. Sahin erhielt 2019 für seine Forschungen den Krebspreis der Deutschen Krebsgesellschaft. Das Besondere der von ihm entwickelten Methode ist demnach die universelle Anwendbarkeit für verschiedene Krebsarten und die Aktivierung des körpereigenen Immunsystems gegen viele durch Mutationen ausgelöste Strukturen. Dadurch wird es für Krebszellen schwieriger, die Therapie zu unterlaufen.


Die WHO hat nun eine paneuropäische Krebsinitiative gestartet, um alle für eine bessere Krebsbekämpfung und -prävention zu vereinen und die politischen Entscheidungsträger in die Lage zu versetzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um Krebs wirksam zu bekämpfen. „Unser anfänglicher Fokus liegt auf Krebs im Kindesalter, Gebärmutterhalskrebs und Brustkrebs“, so WHO-Direktor Kluge. „Wir wollen die Zusammenarbeit und Partnerschaften stärken, die politische Führungsrolle ausbauen, die Jugend und die Zivilgesellschaft einbeziehen und – nicht zuletzt – die Umsetzung der von der WHO entwickelten Lösungen beschleunigen. Dabei handelt es sich um kosteneffiziente, evidenzbasierte Strategien und Maßnahmen, die von fachlichen Anleitungen und Instrumenten begleitet werden, die mit dem Fachwissen und den Ressourcen der WHO abgestimmt sind, um auf Länderebene echte Wirkung zu erzielen.“

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