»Telemedizin verbessert nachweislich Überlebenschancen«

Prof. Dr. Gerhard Hindricks, Herzzentrum Leipzig, über die Chancen der Telemedizin und die Gründe, warum sich das deutsche Gesundheitssystem mit der Digitalisierung der Medizin so schwer tut.
Prof. Dr. Gerhard Hindricks bei seinem Vortrag „Digital Health in Cardiology: Patients, Biosensors, Clinical Care“ auf dem Expert Meeting Berlin am 19. Januar 2019
Biotronik Beitrag

Herr Professor Hindricks, „E-Health“ ist ein verbreitetes Schlagwort. Wie weit sind wir diesbezüglich?
Elektronische Geräte und digitale Anwendungen werden die Medizin nachhaltig verändern, das steht außer Frage. Wir werden die Qualität, Intensität und Dichte der Therapie enorm erhöhen und verbessern können. Um aber dies zu erreichen, sind radikale – manche sagen „disruptive“ – Veränderungen nötig. Da tun sich Akteure des Gesundheitswesens nicht nur in Deutschland, sondern auch international noch schwer.  

 

In Ihrem Tätigkeitsfeld, der Kardiologie, sind telemedizinische Anwendungen schon lange etabliert. Mit welchen Ergebnissen?
Wir sind seit 20 Jahren in der Lage, EKG-Aufzeichnungen von Patienten telemetrisch zu übertragen, und so Herz-Rhythmus-Störungen zeitnah  zu erkennen und gezielt zu behandeln. Die telemedizinische Fernüberwachung von Patienten mit Herzschrittmachern und implantierbaren Defibrillatoren ist in Deutschland schon recht gut verbreitet. Die Implantate nehmen wichtige Patientendaten auf, etwa die Herzfrequenz oder Informationen zu auftretenden Rhythmusstörungen, und leiten diese automatisch an den Arzt weiter. Wie effektiv sie sind, verdeutlicht folgendes Beispiel: Viele Implantatpatienten entwickeln Vorhofflimmern, das ist die häufigste und meist unbemerkt auftretende Rhythmusstörung. Vorhofflimmern geht mit einem bis zu zehnfach erhöhten Schlaganfallrisiko  einher. Mithilfe der Telemedizin lässt sich das Vorhofflimmern zuverlässig erkennen und effektiv behandeln. Ohne telemedizinische Betreuung, ist das Risiko sehr hoch, dass die Rhythmusstörung erst Wochen oder gar Monate später erkannt wird. Diverse Studiendaten zeigen, dass ein kontinuierliches Monitoring eine frühere Intervention ermöglicht und so die Überlebenschancen von Patienten nachweislich verbessert.


Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat kürzlich Zweifel am Nutzen der Telemedizin geäußert...
Die IQWiG-Analyse hat ein zentrales Problem: Hier werden schwache und sehr starke Technologien über einen Kamm geschoren. Unter dem Begriff  „Telemedizin“ werden vielzählige medizinische Geräte, Prozesse, klinische Daten und kardiovaskuläre Verfahren subsummiert. Darunter sind sehr einfache Methoden, die den Patienten einmal pro Woche fragen: Sind Ihre Füße geschwollen? Ja oder Nein? Demgegenüber stehen hochmoderne Medizintechnikgeräte, die innerhalb von 24 Stunden mehrere Vitalparameter gleichzeitig und Tausende von Datensätzen eines Patienten übermitteln können. Diese bilden den Zustand des Patienten viel besser ab und haben eine viel höhere Informationsdichte. Dazu kommt: Telemedizinische Messungen an sich haben keinen Effekt. Erst die Verknüpfung der Daten mit einem klinischen Folgeprozess, etwa einer speziellen Behandlung des Patienten, macht den Unterschied – nur so macht Telemedizin erst Sinn. Dieser wichtige Punkt wurde von den Herstellern und Ärzten bislang kaum berücksichtigt. Wenn man Telemedizin mit klaren Handlungskonsequenzen und Verantwortlichkeiten verknüpft, ergeben sich nachweislich positive Effekte zum Wohle des Patienten.  


Warum dauert es so lange, bis die Konzepte im medizinischen Alltag greifen?
Ein wesentlicher Punkt ist, dass Telemedizin nicht adäquat vergütet wird. Ein Beispiel: Herzschrittmacherpatienten besuchen einmal jährlich ihren Kardiologen, um ihr Implantat auslesen  und überprüfen zu lassen. Die Behandlungszeit des Arztes wird entsprechend abgerechnet. Wenn der gleiche Patient telemedizinisch betreut wird, werden seine Schrittmacherdaten  jeden Tag geprüft und automatisch in einer elektronischen Patientenakte hinterlegt. Der Arzt wird lediglich im Falle einer Grenzwertüberschreitung  informiert. Der Patient ist engmaschiger - sprich besser – betreut, aber der Arzt bekommt diese Leistung nicht vergütet. Hier sind die Kostenträger gefordert.

 

Was erhoffen Sie sich von der Politik und dem E-Health II-Gesetz, das demnächst verabschiedet werden soll?
Die politisch Verantwortlichen müssen zunächst erkennen, dass sich Dinge, die nicht adäquat bezahlt werden, auch nicht durchsetzen werden und dementsprechend handeln. Hiervon ausgehend erhoffe ich mir, dass wir es schaffen, die Versorgung im stationären und niedergelassenen Bereich zu digitalisieren. Dazu gehören die Einführung der elektronischen Patientenakte und standardisierte Monitoringprozesse entlang der Behandlungsleitlinien mit klaren Verantwortlichkeiten und Handlungsvorgaben. Gerade in der transsektoralen Versorgung, dem Übergang des Patienten vom stationären in den ambulanten Bereich, sind wir vorsintflutlich aufgestellt. Es gibt kaum Vernetzung von Krankenhäusern mit niedergelassenen Ärzten, Physiotherapeuten oder anderen Gesundheitsakteuren. Es gibt keine einheitlichen Datenformate und riesige Unsicherheiten, etwa beim Datenschutz. Hier sind sowohl die Gesundheitspolitiker als auch die Hersteller von IT-Technologien gefragt. Ich denke, hier sind große Investitionen nötig, die Kliniken nicht alleine stemmen können. Sie müssen politisch abgesichert werden, damit die Patientenbehandlung über die Sektoren hinweg bruchfrei funktionieren kann.

 

Sind denn auch die Ärzte bereit für den radikalen Wandel?
Die geringe Wandlungsbereitschaft gerade auch der Ärzte sehe ich in der Tat als Problem. Ich möchte an meinen Berufsstand appellieren, dass wir in unseren Köpfen beweglicher werden und den digitalen Wandel proaktiv mitgestalten. Digitale Lösungen werden uns mehr Zeit verschaffen, die wir sinnvoll in den Austausch und die Behandlung unserer Patienten investieren können.   

 

Interview: Mirko Heinemann

 

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